Wie Stiftungen Zukunft imaginieren

(Vortrag beim 9. Stiftungsforum der HST HanseStiftungsTreuhand in Hamburg am 19. Juni 2019)

Stiftungstagungen haben eins gemeinsam: Sie handeln explizit oder implizit von Zukunft.

Bei den Vorträgen über Finanzmärkte ist dies ganz offensichtlich. Klassische Wirtschaftswissenschaft lehrt grob vereinfacht, dass die Preise an den Märkten sich aus allen vorhandenen Informationen ergeben einschließlich der Voraussagen über die Zukunft einzelner Unternehmen und der Volkswirtschaft insgesamt. Der homo oeconomicus trifft auf dieser Basis rationale Entscheidungen.

Wenn Sie in den Wirtschaftsteil der Zeitung schauen, finden Sie dort jede Menge Gegenwarts- und Zukunftsdaten, aus denen alles Mögliche prognostiziert wird – vom globalen Wirtschaftswachstum bis zu Kursen für einzelne Aktien.

Aufmerksamkeit finden auch die Vorausschätzungen von Banken und Vermögensverwaltern über den Stand von Devisenkursen, Goldpreis und Aktienindizes zum Jahresende. Jeder, der das über ein paar Jahre verfolgt hat, weiß, dass diese Vorhersagen in der Regel nichts als lustige Kaffeesatzleserei sind.

Der Wirtschaftssoziologie Professor Jens Beckert, der das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln leitet, hat dieses Phänomen analysiert und den Begriff der „fiktionalen Erwartung“ geprägt, mit der Zukunft imaginiert wird.

Was bedeutet das? So groß auch der Aufwand an Datenerhebung, Modellbildung und Simulationen mit all ihren mathematischen Operationen ist: Zukunft ist nicht vorhersehbar. Wir wollen aber etwas über Zukunft wissen, um heute die richtigen Entscheidungen für morgen und übermorgen zu treffen. Rein in Aktien oder raus? Wohin gehen die Kapitalmarktzinsen? Haben wir eine Blase an den Immobilienmärkten und so weiter…

Alle belastbaren Zahlen sind Zahlen von gestern. So steht es auch in jeder Renditevorausschau.  Wir können daraus Trends annehmen: was bisher gewachsen ist, wächst weiter, was geschrumpft ist, schrumpft weiter. Aber Trends können auch drehen. Und Trends bilden nur einen schmalen Ausschnitt möglicher Zukunft ab. Sie sind z. B. blind für Innovationen wie das Smartphone, die Drohne, Alexa oder Uber. Oder für Ereignisse wie 9/11.

Was wir suchen, sind überzeugende Begründungen, warum etwas so oder so kommen wird. Da geraten wir in den Bereich der Fiktion, die man an der Börse gern Story oder genereller Narrative – Erzählungen=Fiktion – nennt.

Z. B. alles, was mit Internet und Digitalisierung zu tun hat, ist leicht in eine überzeugende Story von gewaltiger Hebelwirkung zu packen. Oder Krebsforschung oder Veganes oder Klimarettung. Da geht es um Imaginationen und Fantasien, die – je größer der Quartalsverlust desto mehr – Erfolg versprechen. Denken Sie an Tesla und Elon Musk. Auf der anderen Seite die negativen Stories zu fossilen Energien, Tabak, Glyphosat, die mit keiner noch so hohen Dividende dementieren können, dass sie dem Untergang geweiht sind. Die Macht der Narrative in der Politik können Sie am Brexit ablesen.

Dabei leben wir in einer Zeit, die glaubt, Fakten ließen sich präzise von Fake unterscheiden. Müssten wir also nicht all diese Prognosen über Aufstieg und Fall, Wachsen oder Schrumpfen als Humbug und Kaffeesatz brandmarken?

Jens Beckert sagt nein. Wer unter den Bedingungen von Ungewissheit Entscheidung zu treffen hat, braucht Begründungen. Diese Entscheidungsgründe liefern fiktionale Erwartungen, Stories, Narrative. Anders würde kein Startup Investoren finden, keine technologische Innovation wie die Atomenergie oder das Elektroauto finanzierbar sein. Der ganze Hype des Disruptiven beruht auf radikalen Zukunftsimaginationen.

Früher haben die Menschen, bevor sie z. B. über Kriegszüge entschieden haben, Gründe aus den Eingeweiden von Opfertieren, dem Vogelflug, den Sternbildern, den Tarotkarten oder den Handlinien gesucht. Manche machen das heute noch.

Bei dem Stifter Kurt Körber fand sich ein Horoskop im Tresor, das man als ziemlich präzise Voraussage seines Erfolgs lesen konnte. Sterne sagen natürlich keine Zukunft voraus. Aber die Voraussage kann dafür sorgen, dass diese Zukunft eintritt.

Seit Jahrzehnten gibt es die Futurologie oder die Zukunftsforschung, d.h. „die wissenschaftliche Befassung mit möglichen, wünschbaren, und wahrscheinlichen Zukunftsentwicklungen und Gestaltungsoptionen sowie deren Voraussetzungen in Vergangenheit und Gegenwart“ (Kreibich 2006). Das klingt ambitioniert, aber praktische Ergebnisse sehe ich kaum.

Delphi ist seit zweieinhalbtausend Jahren eine Marke der Zukunftsdeutung. Die amerikanische RAND Corporation hat in den 1960er Jahren die Delphi-Methode entwickelt, eine systematische mehrstufige Befragung von Experten zu Prognosezwecken. Das ist für ganz konkrete Fälle sicher ein nützliches Instrument. Aber – Stichwort Huawai – kein Smartphone-Experte konnte Trump vorausahnen.

Den größten Einfluss haben noch die Marketing- und Marktforschungsleute, die wie Matthias Horx mit Trendforschung oder irgendwelchen Zukunftsvisionen operieren. Aber auf die trifft genau das Konzept der „fiktionalen Erwartung“ zu.

Zukunftsentscheidungen unter den Bedingungen von Ungewissheit haben wir in Stiftungen ständig zu treffen – nicht nur bei der Vermögensanlage. Es gilt genauso für die Auswahl unserer Engagementfelder. Sollen wir uns als 1000. Stiftung um das Thema Klima oder Flüchtlinge kümmern? Oder hat Völkerverständigung – Iran, Russland, Korea – Priorität? Oder fängt nicht alles mit gesunder Ernährung im Kindesalter an? Oder Schwimmunterricht, Kultur, Stadtteilarbeit…

Für was auch immer Sie sich entscheiden: Die nächste Frage ist: Wie machen wir mit unseren Ressourcen einen Unterschied, wie erzeugen wir in der Zukunft irgendeine Wirkung? Die Theoretiker der Stiftungsarbeit sagen: Dafür brauchen wir eine theory of change. Das ist eine Analyse, wie bei einem bestimmten Thema welche Faktoren zusammenhängen und an welcher Stelle man einen Veränderungshebel ansetzen kann. Also bei Kinderernährung z. B. die Frage, ob die sogenannte Ampel hilft oder der Schulapfel, das Verbot von Süßigkeiten im Kindergarten, vielleicht ein Warnhinweis auf dem Nutella-Glas; oder wäre es besser beim Kalorienverbrauch, das heißt, bei mehr Bewegung anzusetzen?

Je komplexer die Phänomene sind, umso weniger werden Sie sich auf wissenschaftliche Befunde stützen können, die ganz eindeutig sind und nicht nur für Vergangenheit gelten, sondern auch in der Zukunft replizierbar sind.

Hier hat uns in den 80er/90er Jahren die Chaostheorie Demut gelehrt. Sie erinnern sich an den Flügelschlag eines Schmetterlings, der das Wetter ändern kann. Soll heißen: Selbst bei eindeutigen Determinanten können kleinste Abweichungen in den Anfangs- und Rahmenbedingungen zu völlig anderen Ergebnissen führen. Sie kennen das von den Stauvorhersagen: Manchmal kommen Sie gerade da prima durch, aber es bildet sich plötzlich ein Pfropf, wo ihn niemand erwartet hat.

Wenn wir im Stiftungswesen über Wirkungen unserer Arbeit reden, sind das in aller Regel Narrative. Es handelt sich um Storytelling, was wir gemacht haben und welche schönen Effekte wir beobachtet haben und deshalb auch für die Zukunft erwarten. Und wir können selbstkritisch fragen: Ist für unseren Stiftungserfolg nicht ein gutes Narrativ häufig wichtiger als die messbare reale Wirkung?

Wie sollen Stiftungen für eine unvorhersehbare Zukunft entscheiden – in der Vermögensanlage wie in der Zweckverfolgung?

  1. die fiktionalen Erwartungen über Finanzen, Bildung, Migration und so weiter ernst nehmen, denn sie sagen zwar nicht die Zukunft voraus, formen sie aber bis zu einem gewissen Grade;
  2. sich das Fiktionale bewusst machen und damit Distanz aufbauen, denn das gibt die Kraft, auch gegen den Mainstream zu entscheiden und eigene kreative Spielräume zu entwickeln;
  3. Entscheidungen zu wagen, wird nicht einfacher, ist einem erst mal das Vertrauen in Prognosen abhanden gekommen. Aber es gilt, sich nicht von der Ungewissheit lähmen zu lassen. Was immer wir auch machen, es ist ein Experiment auf die Zukunft. Experimente bedeuten in den Naturwissenschaften Erkenntnisfortschritt, selbst wenn sich die Annahmen nicht bestätigen.

Professor Beckert hat sich mit seinem Buch „Imaginierte Zukunft“ über die fiktionalen Erwartungen unter seinen wirtschaftswissenschaftlichen Kollegen wenig Freunde gemacht, spricht er doch aus, dass der Kaiser ziemlich nackt ist.

Was können wir in den Stiftungen jenseits unserer Einzelentscheidungen unter Bedingungen der Ungewissheit lernen? Geht es nicht darum, den Umgang mit Zukunft als ein großes Spiel zu begreifen, das Gesellschaft in Trab hält, und in dem wir Stiftungen nicht die Hauptrolle, aber auch nicht bloß als Komparsen spielen.

Erfolgreiche Zukunftsimaginationen wünscht Ihnen

Wolf Schmidt

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