Die Gabe zwischen Gefühl und Kalkül

Wie viel Spendenaufrufe haben Sie in den letzten Wochen wahrgenommen – z.B. in der Zeitung, über einen Sender, in der Post, beim Gottesdienst oder auf der Straße?

Warum eigentlich sind gerade November und Dezember die großen Spenden-Monate? Wie der Deutsche Spendenrat ermittelt, liegt im November das Spendenvolumen circa 50 % über dem der Vormonate, im Dezember ist es in der Regel dreimal so hoch. Fast jeder vierte Spenden-Euro geht im Dezember ein.

Die rationale Erklärung operiert mit dem Steuer-Kalkül. Kurz vor Ultimo kann man absehen, wie die Einnahmensituation war und wie sich die Steuerlast durch Spenden senken lässt. An den hektischen Bemühungen, zum Jahresende noch schnell eine Stiftungsgründung unter Dach und Fach zu bringen, lässt sich das gelegentlich beobachten. Auch ist am Jahresende die Frist zwischen Gabe und Erstattung vom Finanzamt am kürzesten.

Allerdings: Die Mehrheit der Bevölkerung ab 14 Jahren spendet überhaupt nicht und die Menschen ab 70 sorgen allein für 40% des Spendenaufkommens. Steuerliche Gestaltung dürfte dabei eher eine geringe Rolle spielen. Vielleicht aber die alte Einsicht: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“. Nimmt man auf Grund von Lebenserfahrung außerdem an, dass Männer sich mehr für Steuerfragen interessieren als Frauen, fällt auf, dass der Anteil von Spendenden unter Frauen erheblich höher liegt als unter Männern.

Hat es also vielleicht doch mit der Gefühlslage am Jahresende zu tun? Dem Kaufrausch – jeder vierte Einzelhandelseuro wird im Weihnachtsgeschäft umgesetzt – scheint die Bereitschaft zur Gabe fürs Gemeinwohl zu entsprechen.

So transformierte sich ein Dankopfer, von dem es im Matthäus-Evangelium heißt, dass die Weisen aus dem Morgenland in Bethlehem das Jesuskind fanden und „sie fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe“.

Heutzutage macht auch jeder dritte Tierbesitzer zu Weihnachten eine Bescherung für Hund, Meerschweinchen oder Piepmatz, wie gerade eine FORSA-Umfrage ermittelt hat.

Die Spendenbereitschaft zum Jahresende hat sicher ihre Wurzeln im Dankopfer, das in der Regel auch mit Almosen verknüpft ist. Zahlen aus 2012 zeigen, dass von den 9 Prozent der Bevölkerung, die regelmäßig zum Gottesdienst gingen, 24 Prozent der Spendeneinnahmen stammten. In der Tat hat das europäische Stiftungswesen seine Wurzeln in der Seelenheil-Versicherung gegen die Qualen der Hölle. Fürbittgebete gegen Almosen, lautete dieses Geschäftsmodell.

Die religiöse Komponente der Gabe wird noch deutlicher als im Christentum in den Gesetzesreligionen von Judentum und Islam.

Juden unterliegen der Pflicht zur Zedaka – auch die Ärmsten sollen noch teilen, um die Welt zu heilen. Zedaka unterscheidet sich damit von unverbindlicher Wohltätigkeit. So ist es kein Wunder, dass unser modernes Stiftungswesen ohne die Impulse aus dem jüdischen des 19. Jahrhunderts gar nicht denkbar ist. Aus der religiösen Pflicht oder Tradition heraus spielen Juden auch heute eine große Rolle als Stifterinnen und Stifter.

Für den Islam bietet beispielsweise ein Blick auf die Website von Islamic Relief Deutschland, die jährlich fast 15 Millionen Spenden generiert, Anhaltspunkte für ein ganz anderes Spendenverständnis als im Christentum. Was im Christentum die weihnachtliche Spendensaison ist, fällt im Islam auf den über das Jahr beweglichen Ramadan. Da existieren feste Sühnesätze für absichtliches Fastenbrechen oder Nichteinhalten eines Versprechens (Kaffara), begründet nicht gefastete Tage oder grundlos verzögertes Nachholen von Ramadan-Fastentagen (Fidya).

Darüber hinaus gibt es als eine der fünf Säulen des Islam die Zakat als Almosenpflicht zugunsten von Muslimen wie z.B. Bedürftigen, Reisenden, Verschuldeten oder Dschihad-Kämpfern. Freiwillig ist dagegen die Sadaqa als materielle oder immaterielle Wohltätigkeit, die auch Nichtmuslimen zugute kommen kann.

Ob allerdings religiöse Menschen generell hilfsbereiter sind, ist offen. Eine Studie in Social Psychological and Personality Science legt nahe, dass eine religiöse Gabe eher durch Regeln geprägt ist und eine nichtreligiöse durch Großzügigkeit aus Mitleid.

Das führt zu einer weiteren Dimension von Gefühl und Kalkül; die Zwecke der Gabe. Fast 80% des Spendenvolumens, das sich insgesamt zwischen 5 und 7 Milliarden Euro pro Jahr bewegt, gehen in „humanitäre Hilfe“, dazu zählen Kirche/Religion, Kinder- und Jugendhilfe, Not- und Katastrophenhilfe, Krankheit und Behinderung sowie „sonstige humanitäre Hilfe“. Unter den nichthumanitären Zwecken steht Tierschutz mit 5,5% an der Spitze, gefolgt von Sport mit 2,7%, Kultur und Denkmalpflege mit 2,6% sowie 2,5% für Umwelt und Naturschutz. Die restlichen 10% sind ohne Angaben oder sonstige.

Spenden gehen an Organisationen, die mit Angst und Tränen, Hunger und Hilflosigkeit, Schmerz und Tod zu tun haben – und damit auf der Gefühlsebene werben. Die größten Akteure, die beiden SOS-Kinderdorf-Organisationen in Deutschland, spielen auf diese Weise allein rund 250 Millionen Euro pro Jahr ein.

Menschen folgen der Ökonomie des Gebens, wie sie der französische Soziologe Marcel Mauss 1923 in seinem Essay „Die Gabe“ entwickelt hat, die aber auch im alten Rom schon in der Redeweise des „do ut des“ existierte (ich gebe, damit du gibst). Der grundlegende Gedanken: Ich könnte (oder meine Lieben könnten) auch in solche Situationen geraten und dann wollten wir auch, dass andere für uns geben.

Das ist eine sehr menschliche Regung und sie ist bei den gefühligeren Alten noch ausgeprägter als bei jüngeren. Wenn ein Mädchen aus Afrika einen Bitt- oder Dankbrief mit Foto persönlich adressiert schickt, dann fließen Spenden. Kinderbilder, Tierfotos, Szenen der Hilflosigkeit und des Elends sind überzeugender als jedes wissenschaftlich fundierte Kalkül.

Das Schönste an der Gabe ist zudem für viele Menschen die Aufmerksamkeit und Dankbarkeit, die sie ihnen beschert. Dafür braucht es eine personale Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Der jüdische Gelehrte Maimonides wollte sie schon vor 800 Jahren mit seinen heute noch lesenswerten Maximen der Gabe überwinden:

„ACHT STUFEN DER WOHLTÄTIGKEIT

Die allerhöchste Stufe:
Dem Bedürftigen die Möglichkeit geben, sich selbstständig zu ernähren.

Die zweithöchste Stufe:
Wohltätig sein in einer Weise, dass der Spender und der Bedürftige nicht voneinander wissen.

Die dritthöchste Stufe:
Der Wohltäter weiß, wem er gibt, aber der Arme erfährt nicht den Namen des Spenders.

Die vierthöchste Stufe:
Der Gebende kennt nicht den Namen des Bedürftigen, aber dieser kennt den Spender.

Die fünfthöchste Stufe:
Geben, bevor man gebeten wird.

Die sechsthöchste Stufe:
Geben, nachdem man gebeteten wurde.

Die siebthöchste Stufe:
Zwar nicht ausreichend geben, aber dennoch mit Freundlichkeit.

Die unterste Stufe:
Mit Unfreundlichkeit geben.“

Wenn Menschen Almosen offen oder anonym geben, Talente persönlich fördern oder Nothilfe verschiedenster Art leisten, ist das aller Ehren wert – ob nun im Dezember oder im Januar.

Aber eine Gesellschaft braucht auch das, was ein gefühlsgesteuerter Spendenmarkt nicht hergibt: das Kalkül strategischer Intervention z.B. zugunsten gesellschaftlicher Reformen, Völkerverständigung, Friedenssicherung, besserer Bildung oder wissenschaftlicher Forschung. Dies ist auf Stiftungen, die nicht gefühlsgesteuert agieren sollten, und im Sinne von Maimonides aufgeklärte Großspender angewiesen, die sich von der Wichtigkeit und Wirksamkeit eines Ansatzes mehr beeindrucken lassen als vom Appell an Gefühle.

Besinnliche Feiertage in Bescheidenheit wünscht Ihnen
Ihr

Wolf Schmidt

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