Diskurs stiften

Viele wünschen sich was Praktisches von Stiftungen: den Spezial-Rollstuhl für Behinderte, den pädagogisch wertvollen Spielplatz, den Museumsanbau oder die Laborausrüstung. Diskurs – die kollektive Bewusstseinsbildung und Entscheidungsvorbereitung durch miteinander Reden – steht nicht so hoch im Kurs. Reden reimt sich auf Gerede und das ist bekanntlich nutzlos.

Aber die großen gesellschaftlichen Veränderungen – ob zum Besseren oder zum Schlechteren – kommen ohne Diskurs nicht aus. Atomenergie und Schwulenrechte, Islam und Studienreform, Gerechtigkeit und Populismus: die Zahl der Themen, die nicht von Fachleuten nach richtig oder falsch beurteilt werden können, ist immens. Nur in Debatten können sich begründete Meinungen herausbilden. Sie werden kaum je zu einem Konsens führen. Aber sie begründen herrschende wie minoritäre Meinungen und geben Ihnen argumentative Legitimität.

Jürgen Habermas hat dafür den Begriff der deliberativen Demokratie geprägt. In der Offenheit für Argumente aus unterschiedlichen Positionen unterscheidet sich solch eine pluralistische und rechtsstaatliche Ordnung von der Mehrheitswillkür des bloßen Stimmzettels. Das Grundgesetz weist Parteien die Rolle zu, diesen politischen Willensbildungsprozess zu gestalten.

Das ist die Theorie. Aus der Praxis wissen wir, dass Parteien nur hin und wieder Orte herrschaftsfreien Diskurses, häufig aber machtopportunistischer Instrumentalisierung von Argumenten und vermeintlichen Fakten sind. Deshalb braucht politisch-gesellschaftlicher Diskurs mehr Akteure. Dazu gehören interessengeleitete Verbände, moralische Autoritäten wie die Kirchen, unabhängige Experten und nicht zuletzt Stiftungen.

Dabei sollten Stiftungen sich weder tagespolitisch einmischen noch direkten Einfluss auf Parlamentsentscheidungen anstreben. Stiftungen können gesellschaftspolitisch wirken, indem sie gerade in deutlicher Distanz zu parteipolitischen Fronten Bürgerinnen und Bürger an Debatten beteiligen, die grundlegende Orientierung ermöglichen.

Ein aktuelles Beispiel bildet die Initiative Offene Gesellschaft, die zur Zeit an vielen Orten Deutschlands Debatten zur politischen Kultur organisiert. Das materielle Rückgrat bilden gleich mehrere Stiftungen wie die Open Society Foundations von George Soros und die Robert Bosch Stiftung. Letztere hat das Programm der selbständigen Initiative obendrein mit einem Fonds ergänzt, aus dem Veranstaltungen und Aktionen, „die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein Wir-Gefühl stärken, für Toleranz, Vielfalt und Demokratie eintreten und sich gegen politischen Radikalismus und Hass positionieren“, jeweils bis zu 3.000 € beantragen können.

Gegen „Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ setzt sich seit 1998 die Amadeu-Antonio-Stiftung mit einer gewissen Vehemenz ein. Dabei sieht sich die Stiftung als Akteur der „Aufklärung, Sensibilisierung sowie Beratung und Förderung von lokalen Initiativen“.

Die Hamburger Körber-Stiftung bringt seit langem über ihre Edition Körber-Stiftung gesellschaftspolitische Themen ins Gespräch, das auch live und konkret im eigenen Veranstaltungszentrum an der Kehrwiederspitze stattfindet

Viel abstrakter agiert die im Schleswig-Holsteinischen Neversdorf ansässige Udo Keller Stiftung mit einer „Wiederbelebung der Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens auf der Höhe der Bedingungen des 21. Jahrhunderts“. Dabei geht es ganz besonders um eine Auseinandersetzung mit den Weltreligionen.

Die Stiftung Schloss Ettersburg – eine Gründung der Deutschen Bauindustrie – möchte eine „Plattform für tabufreie Diskussionen“ zum demografischen Wandel bieten.

Von der Bundesregierung wurde die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 2011 geschaffen. Ihr Anliegen ist es, einer „gesellschaftlichen Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, trans- und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen (Abkürzung LSBTTIQ )“ entgegenzuwirken.

Ein ganz anderes „Argumentarium“ hält die Stiftung Marktwirtschaft bereit, damit „Sie sich oder Ihre Gesprächspartner von den Vorteilen der Marktwirtschaft überzeugen können“.

Wie man sieht, gibt es keinen einheitlichen Zuschnitt diskursfähiger Gegenstände. Sie können je nach gesellschaftlicher Situation und Interessenlagen immer wieder neu gemixt werden. Und gewiss geht es seitens der Stiftung nicht um einen völlig neutralen Standpunkt, aber vorzugsweise doch einen, der nicht parteipolitisch fixiert ist und Gegenmeinungen einen Raum geben sollte.

Ich selbst habe mich in der Zusammenarbeit mit verschiedenen Stiftungen – Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, Herbert Quandt-Stiftung und nicht zuletzt die von mir gegründete Mecklenburger AnStiftung – seit einiger Zeit auf die Situation ländlicher Räume fokussiert.

Zwar lebt die Hälfte der Bevölkerung im ländlichen Raum, die gesellschaftlichen Diskurse sind allerdings nach Akteuren und Themen urban dominiert. Ländliche Räume figurieren da meist als wirtschaftlich prekär und politisch suspekt. Und immer noch wird ländlicher Raum mit Landwirtschaft gleichgesetzt, obwohl selbst in einem Land wie Mecklenburg-Vorpommern, das alle Agrar-Klischees erfüllt, von 1,6 Millionen Einwohnern nur 16.000 sozialversicherungspflichtig in Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft beschäftigt sind. Mit einem Wort: Ländlicher Raum wird landschaftlich nach wie vor durch Landwirtschaft geprägt, gesellschaftlich spielt sie aber auch auf dem Lande nur noch eine untergeordnete Rolle.

Das verweist auf eine Neue Ländlichkeit, die ohne schicksalhafte „Bindung an die Scholle“ frei und möglicherweise auch nur für einen Lebensabschnitt gewählt wird – und dies gerade von Städtern, von kulturell aktiven, besser gebildeten und materiell unabhängigen Menschen.

Die Mecklenburger AnStiftung hat sich dieses Themas mit dem Ziel eines neuen Ländlichkeitsdiskurses angenommen und dazu ein Buch von mir publiziert. Hier finden Sie eine Leseprobe aus „Luxus Landleben – Neue Ländlichkeit am Beispiel Mecklenburgs“. Gerade begonnen wurde auch ein Blog zum Thema: www.landblog-mv.de

Diskurse mögen auf den ersten Blick nicht so handfest sein. Aber die Hand wird bekanntlich vom Gehirn gesteuert. Was da nicht gedanklich verarbeitet ist, kommt auch nicht zu guter praktischer Wirkung.

Erfolgreiche Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs wünscht Ihnen
recht herzlich
Ihr
Wolf Schmidt

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